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Welche militärische Reaktion aus Russland ist zu erwarten? Interview mit Schweizer Militärexperten Bosshard

2024-11-20 20:16
von Thomas

Éva Péli: Wie ist diese Ankündigung von Joe Biden aus militärischer Sicht zu bewerten? Welche militärische Reaktion aus Russland ist zu erwarten? Und gegen wen wird sie sich richten (USA, Großbritannien, Frankreich oder die Ukraine)?

Ralph Bosshard: Neben Schlägen gegen Ziele auf ukrainischem Territorium haben die Russen auch die Möglichkeit, militärische Ziele von Briten und Franzosen in internationalen Gewässern, in deren Übersee-Besitzungen oder in Drittländern zu bekämpfen, Letzteres aber bestimmt mit Einschränkungen. Bislang haben die Konfliktparteien auf den Abschuss von Satelliten der Gegenseite verzichtet, da dies eine Pandora-Box öffnen könnte. Das ist derzeit wohl noch ein Tabu. In diesem Bereich sehe ich sogar Möglichkeiten für Rüstungskontrollgespräche.

Mit den vom Westen bisher gelieferten Abstandswaffen kleiner und mittlerer Reichweite kann die Ukraine versuchen, die derzeit drängendsten militärischen Probleme zu lösen.

Eines davon ist der Einsatz der FAB, das heißt schwerer russischer Fliegerbomben zur Zerstörung auch gut ausgebauter Feldbefestigungen. Die jahrelang ausgebauten und teilweise betonierten Befestigungen aus den Jahren 2014 bis 2022 haben die Russen mittlerweile überall durchbrochen, und jetzt versuchen die ukrainischen Truppen, sich namentlich in Siedlungen in Feldbefestigungen zu halten. Die FAB sind mit Steuerungsmodulen ausgerüstet und werden offenbar aus bis zu 70 Kilometern Distanz abgeworfen. Die Russen setzen diese Bomben mittlerweile sehr präzis ein. Träger sind sogenannte Frontbomber, die von Flugplätzen in 170 bis 200 Kilometer Tiefe operieren. Sollten diese Flugplätze in die Reichweite westlicher Abstandswaffen kommen, werden die Russen aus weiter hinten liegenden Flugplätzen operieren. Während meiner Ausbildung an der Generalstabsakademie in Moskau planten wir noch mit Frontbombern des Typs Su-24. Die Reichweite der Su-34 im Einsatz heute dürfte noch einiges höher sein als die der Su-24. Ein Ausweichen nach hinten ist problemlos möglich.

Eine Unterbrechung des russischen Nachschubs und der Zufuhr von Truppen an die Front ist nur durch den konzentrierten und systematischen Einsatz gegen ausgewählte Zielkategorien möglich, wie zum Beispiel gegen die Einrichtungen der Munitions- oder Treibstoffversorgung oder gegen das Eisenbahnnetz. Die Russen können ihre Nachschubeinrichtungen auf breiter Front verteilen und profitieren von einem dichten Eisenbahnnetz im Donbass, das sie mit zusätzlichen Eisenbahnlinien verdichten können. Dafür gibt es in der russischen Armee die Eisenbahntruppen. Um dieses Netz zu unterbrechen, müssen die Ukrainer einen hohen Aufwand betreiben und zahlreiche Raketen verschießen. Unklar ist, wie nahe sich ukrainische Kampfflugzeuge und Raketenwerfer noch an die Front wagen können.

Auch der Einsatz gegen Führungseinrichtungen am Boden verlangt einen aufwendigen Targeting-Prozess, denn gemäß gültigen Einsatzverfahren wechseln die Russen ihre Führungseinrichtungen im Tagesrhythmus. In letzter Zeit habe ich kaum mehr Meldungen über zerstörte russische Führungseinrichtungen gesehen.

Grundsätzlich rechnen die Einsatzverfahren der russischen Armee mit dem Einsatz von Kurz- und Mittelstreckenwaffen durch den Gegner. Man wird sich vorbereiten, wie man es gelernt hat. Mit dem Einsatz der vom Westen gelieferten Kurz- und Mittelstreckenwaffen ist es wohl nur temporär möglich, Druck auf die russischen Streitkräfte auszuüben.

Ferner können die Ukrainer zwecks Hebung der Kampfmoral symbolisch wichtige Ziele angreifen, was aber keinen nachhaltigen militärischen Effekt haben wird. Umgekehrt haben Angriffe auf rein militärische Ziele wohl wenig Wirkung auf die Moral der Ukrainer.

Bei all dem bleibt die Kontrolle über die anzugreifenden Ziele in westlicher – primär US-amerikanischer – Hand, denn die Ukrainer haben wohl keinen direkten Zugriff auf die notwendigen Mittel von Navigation, Kommunikation und Aufklärung, ohne die ein Angriff nicht stattfinden kann. Gerade bei den neusten Systemen wird wohl auch noch technische Unterstützung von Seiten der Herstellerfirmen notwendig sein. Mit dem Einsatz dieser Mittel kann Biden den russischen Vormarsch verlangsamen und den durchaus möglichen Zusammenbruch hinausschieben, bis Trump im Amt ist. „Nicht auf meiner Wache“, heißt wohl die Devise.

Wie schätzen Sie angesichts dieser Entscheidungen die Chancen für eine Verhandlungslösung ein?

Ich sehe kaum Einfluss auf die Chancen einer Verhandlungslösung. Nicht der Westen bestimmt mit seinen Waffenlieferungen das Ende des Kriegs in der Ukraine. Die angeblichen Wunderwaffen des Westens haben seit Februar 2022 nicht viel gebracht, und wie ich eingangs sagte, werden auch die ATACMS, Storm Shadows und andere den Verlauf dieses Kriegs nicht mehr entscheidend beeinflussen können. Dieser wird dann beendet werden, wenn Xi Jinping und Wladimir Putin finden, es sei nun genug. Grundsätzlich muss jetzt jeder gewarnt sein, der bereit ist, sich für den Westen in einen Konflikt mit Russland oder China zu stürzen.

Im September erklärte der russische Präsident Wladimir Putin, dass der Einsatz westlicher Langstreckenwaffen gegen Russland eine direkte Beteiligung der NATO-Staaten am Konflikt in der Ukraine bedeuten würde, und warnte: „Wenn sie den Krieg auf dem Territorium der Ukraine nach Osten verlagern, wird er dort nicht enden, denn der Krieg wird auch den Westen erreichen.“ Wie will sich die NATO auf die von Putin angekündigte Antwort vorbereiten?

Für Franzosen und Briten mag es derzeit angebracht sein, vorerst keine Kriegsschiffe mehr in die Gewässer rund um die Bab-al-Mandab oder an die iranische Küste zu entsenden. Allenfalls müssen sie auch andere Seegebiete meiden. Auch auf Einrichtungen auf dem Meeresgrund rund um Westeuropa würde ich derzeit besonders sorgfältig achten.

Dass Deutschland nicht mit Angriffen auf sein Territorium rechnet, zeigt die Tatsache, dass im Bereich des Bevölkerungsschutzes kaum etwas unternommen wird. Außer der Bevölkerung zu raten, die Keller ihrer Häuser zu entrümpeln und ihr ansonsten viel Glück zu wünschen, hat auch Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nicht viel zu bieten. Es gibt heute übrigens andere Mittel, ein Land und seine Bevölkerung zu piesacken.

Mir scheint seit Längerem Bundeskanzler Olaf Scholz der klügere Stratege zu sein, der sich nicht unnötig und frühzeitig exponiert, wo er es nicht braucht; nur schade, dass er so eine schwache Regierungsmannschaft um sich hat. Die Strategie nationaler Sicherheit, die ich im vergangenen Jahr im Bundestag kommentieren durfte, war einfach nur schwach. Aber die Opposition aus CDU/CSU hatte schon damals nicht mehr Brain zu bieten.

Früher sagte der US-Präsident Biden, er würde den Einsatz dieser Raketen gegen Ziele in Russland nicht zulassen, weil dies zum dritten Weltkrieg führen würde. Kurz vor seinem Amtsabtritt hat er anscheinend keine Angst mehr vor einem solchen Szenario? Was hat sich seitdem geändert?

Der Einsatz von Kurz- und Mittelstreckenwaffen soll ein möglicherweise bereits bestehendes Agreement zwischen dem Team von Trump und der Regierung Putin torpedieren, indem Putin zu Handlungen verleitet wird, die Trump keine andere Wahl lassen, als den Krieg fortzusetzen. Für die Russen sind deshalb derzeit Angriffe auf US-Einrichtungen und -Truppen ausgeschlossen.

Mit dem Einbezug von Franzosen und Briten soll sichergestellt werden, dass der Krieg auch nach Trumps Amtsantritt weitergehen kann. Biden nutzte dabei natürlich die Großmacht-Ambitionen Frankreichs und Großbritanniens. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der britische Premierminister Keir Starmer wissen aber auch, dass die russische Vergeltung Ende Januar primär sie treffen wird, sobald Trump am Ruder ist. Ich denke, Briten und Franzosen werden auf Tauchstation gehen, sobald es wirklich gefährlich wird.

Russland will aber sicher vermeiden, dass eine der Parteien den Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags anrufen kann, wenn sie Opfer eines Vergeltungsschlags wird. Es wird folglich keine Ziele auf NATO-Territorium angreifen. Russland kann aber jetzt demonstrieren, dass seine Streitkräfte britische und französische Einrichtungen außerhalb des Mutterlandes angreifen können und dass diese sich nicht werden schützen können. Die vor einigen Tagen wieder aufgenommenen kombinierten Raketen- und Drohnenschläge auf Ziele in der Ukraine zeigen, dass Russland durchaus Vergeltung üben kann, auch gegen gut geschützte Ziele. Und das lässt vermuten, dass die Russen die aktuelle Entwicklung vorhergesehen und sich darauf vorbereitet haben.

Es würde mich nicht einmal überraschen, wenn die US-Amerikaner den Russen auf geeigneten Wegen vor dem Ausführen von Schlägen entsprechende Warnungen zukommen ließen.

Insgesamt wird der Kreml wohl so reagieren wie seit Jahren, nämlich langsam und überlegt. Wenn Putin aber in der Presselandschaft mit dem nuklearen Säbel rasselt, stellt er Biden als denjenigen Verlierer hin, der um seines Egos Willen noch kurz vor seinem Abgang einen Atomkrieg riskierte. Trump kann sich hinterher als Initiator der Entspannung darstellen und folglich von einer verbalen Eskalation profitieren. Bitte erwarten Sie von mir jetzt nicht auch noch Lobeshymnen auf Bidens Führungsfähigkeiten.

Laut Medien soll Selenskyj verärgert sein, dass Bidens Entscheidung in den Medien öffentlichkeitswirksam verkündet wurde. Experten interpretieren dies so, dass die US-Administration Putin warnen will, bevor es zu Angriffen kommt, um eine Eskalation zu vermeiden. Was halten Sie davon?

Hier wird kein Wunschkonzert für Selenskyj gespielt. Er hat vielmehr zu akzeptieren, was man ihm zuzubilligen bereit ist. Die Musik wird von den „großen Jungs“ gemacht. Biden hat eine Eskalation angekündigt und gleich wieder auf Beschwichtigung gemacht. Mit der Ankündigung in der Öffentlichkeit hat er de facto den Russen eine Warnung zukommen lassen und sie damit auch gleich wieder ein Stück weit beruhigt. Er hätte die Ukrainer auch überraschend zuschlagen lassen können, was Präsident Selenskyj offenbar am liebsten gewesen wäre.

Hier zeigt sich der Charakter des aktuellen Kriegs als Informationskrieg. Im Westen glaubte man, dank der Beherrschung der Medienlandschaft jeden Krieg gewinnen zu können. Dieser Glaube basiert im Wesentlichen auf dem Trauma der USA aus dem Vietnam-Krieg. Aus Kurakhove, Pokrovsk (Krasnoarmeisk), Chasov Yar und Kupjansk sind in den nächsten Tagen und Wochen russische Erfolgsmeldungen zu erwarten, und wenn Selenskyj den Zwängen des Informationskriegs folgt und Truppen an die Grenze im Raum Tschernihiw (Anm. Red.: Die Stadt ist durch das dort befindliche Operative Armeekommando Nord ein bedeutender Standort der ukrainischen Armee) beordert, dann macht er alles nur noch schlimmer. Jetzt muss ein Moral-Booster her in Form von ein paar Raketeneinschlägen in Russland, die man dann zu strategischen Erfolgen hochjubeln kann. Mit Trump und den nordkoreanischen Truppen hat man vorsorglich schon mal eine Dolchstoß-Geschichte vorbereitet.

Die Ankündigung in der Presse durch Biden war eines der Kernstücke des Plans: Es geht Biden darum, ganz zum Schluss noch die bislang magere Bilanz seiner Amtszeit aufzupolieren. Biden hat die Blamage von Kabul zu verantworten, war aber danach noch arrogant genug, um Russlands Initiative in Sachen Friedensgarantien vom Dezember 2021 zurückzuweisen. Er musste seit Februar 2022 hilflos zuschauen, wie sein Möchtegern-Verbündeter in Kiew zusammengeschlagen wurde, und will jetzt mit allen Mitteln noch versuchen, sich in ein besseres Licht zu stellen. Die Welt in einen Atomkrieg zu stürzen, ist nicht Teil seines Plans.

Joe Biden wurde gerade eben in Peru seine Bedeutungslosigkeit demonstriert, als er hinten und außen aufs Gruppenfoto postiert wurde. Mit seiner Aussage, er werde mit Trump gut zusammenarbeiten wollen, goss Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping noch zusätzlich Öl ins Feuer. Damit sagte er implizit, dass er mit Biden nicht mehr zusammenarbeiten will. Wenn Biden in den verbleibenden zwei Monaten seiner Amtszeit nicht noch mehr gedemütigt werden will, muss er jetzt noch schnell auftrumpfen. Er weiß, wie die Amtszeit Jimmy Carters endete.

Wissen Sie, in welcher Form die Entscheidung Bidens zu den erweiterten Zielen für US-Langstreckenwaffen erfolgt – als Präsidentenorder, als formaler Regierungsbeschluss oder nur per Telefonat (von wem) an Kiew (mit wem)? Und wie erfolgte bis dato die bisherige Reichweitenbegrenzung der Waffen, rein technisch oder per Befehl?

Die Details kennen natürlich nur die Beteiligten. Die Umsetzung der Entscheidung wird trilateral erfolgen – US-amerikanische, britische und französische Militärs werden die Schläge wohl gemeinsam planen. Da haben NATO-Gremien wohl nicht viel zu sagen, denn erfahrungsgemäß werden strategische Assets der Großen nicht geteilt, da ist jeder sich selbst der Nächste. Darunter fallen Sonderoperationskräfte, strategische Waffen, Satelliten- und Agenturaufklärung und andere Mittel auf Regierungsstufe. Damit dürfte auch keine eingespielte Zusammenarbeit etabliert sein. Das muss eventuell neu aufgebaut werden.

Jetzt muss ein Targeting-Prozess in Gang gesetzt werden, von der Lageüberwachung über die Ziel- bis hin zur Wirkungsaufklärung. Das umfasst Aufklärungs-, Kommunikations- und Navigationssatelliten, von denen manche eventuell noch auf die richtige Umlaufbahn gebracht werden müssen. Zu den vorbereitenden Maßnahmen gehören auch solche im Bereich der elektronischen Kriegführung. Ich konnte im vergangenen Monat in mehreren russischen Städten selbst feststellen, dass die Russen GPS-Empfang stören und teilweise auch spoofen, das heißt, die Signale so manipulieren, dass GPS-Geräte falsche Standorte ermitteln. Die Abweichungen betrugen bis zu 15 Kilometer.

All das setzt einen Planungsauftrag der Präsidenten beziehungsweise des Premierministers voraus – Biden, Starmer und Macron, die ja als Oberkommandierende der Streitkräfte amtieren. Je nach Stand der Vorarbeiten in Form von Eventualplanungen muss dann ein Planungsverfahren in Gang gesetzt werden, dass durchaus Tage dauern kann. Welche Ziele bekämpft werden, da können vielleicht die Ukrainer Wünsche äußern, aber das letzte Wort werden wohl US-Amerikaner, Briten und Franzosen haben.

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