Eilfahndung
Dezember 1981, 11.00 Uhr – Der 1. Zug der SAklK begann die zweite Komplexausbildung in einem sumpfigen Gebiet der Wälder der Dübener Heide. Nichts deutete darauf hin, dass sie schneller beendet werden würde, als sie angefangen hatte. Dennoch, die Meteorologen hatten sich wieder geirrt und ein kräftiger Kälteeinbruch und aufziehender Nebel begleitet die Männer in die Nacht.
Die Ausbildung sah vor, dass die Aufklärer zwischen 23:00 und 00:30 Uhr durch die gegnerischen Linien “einsickern” sollten, um dann nach dem Anlaufen eines Sammelpunktes eine Basis einzurichten und weitere Aufgaben zu erfüllen …
Die Nacht war klirrend kalt, irgendwo bellte ein verdammter Köter, der erste Schnee verlangte Schneehemden und Winterausrüstung. Durch die Wolken war wenigstens der Mond zu sehen. Neun Zwölftel abnehmend – wenigstens eine gute Orientierung, dachten die erfahreneren Gruppenführer.
Der sogenannte Abschnitt, in dem die Männer einzeln und jeder für sich allein einsickern sollte, war durch einen abgelegenen Straßenabschnitt markiert und durch eigene Leute bewacht. Diese patrouillierten rauchend und gut gelaunt. Sie wussten, dass für sie der Tag nach 24:00 Uhr so gut wie gelaufen war und die Aufklärer erst am Beginn einer anstrengenden Ausbildung bei minus 14° C waren. Außerdem waren sie für den Fall motiviert worden, dass sie einen Aufklärer gefangen nahmen.
16.12.01.00 – Leutnant A. registriert in der Basis, dass ein Mann nicht angekommen ist. Schade, denkt er, denn der fehlende Soldat ist ein entwicklungsfähiger Aufklärer. Er meldet über Funk die Lage, in der Annahme, dass der Soldat B. beim Einsickern gefangen genommen wurde.
Die Antwort kommt prompt: Soldat B. wurde zunächst gefangen, gefesselt und abtransportiert, ist aber wieder entkommen – wann, wie und wohin unbekannt. Leutnant A. entschließt sich bis 05:00 Uhr zu warten und bis dahin den Sammelpunkt als Basis auszubauen.
16.12.05.00 – Keiner angekommen, niemand gesichtet oder gehört, keinen Funkkontakt zu Soldat B.
Leutnant A. informiert den Vorgesetzten.
In der Kaserne werden zur nochmaligen Befragung die Soldaten geweckt, die nachts zur Patrouille eingesetzt waren. Sie können jedoch nichts aussagen. Auf ihrem Transportfahrzeug findet sich nur ein blutiger Fetzen Schneehemd und ein
Rest zerschnittener Fallschirmleine. Funkspruch an die Aufklärer draußen: Ausbildung abbrechen – Mann suchen!
Leutnant A. befiehlt seine Gruppen zu sich und begibt sich noch im Dunkeln den nächtlichen Weg zurück. Bis zum Ausgangspunkt und bis zum Hellwerden um 8:00 Uhr wird Soldat B. nicht gefunden.
16.12.08.00 – Noch zögert der Kompaniechef eine Meldung an die vorgesetzte Dienststelle zu machen. Er kennt den fehlenden Mann und glaubt nicht so recht ein “besonderes Vorkommnis”. Seit früh um 6:00 Uhr ist er am Tisch über den Personalien des Soldaten B. und überlegt, wie er weiter vorgehen will.
Um Punkt 8:00 Uhr rollen vier W50-LKW und mehrere Geländewagen mit dem gesamten Personalbestand Richtung Einsatzgebiet. Die Fahrt dauert nicht lange. Wir hoffen, Soldat B. schnell zu finden. Es ist so plötzlich Winter geworden und es schneit heftig. Wenn ein Aufklärer überhaupt Spuren hinterlässt – jetzt finden wir im frischen Schnee sowieso keine mehr.
Das Gelände teilen wir ein und durchkämmen es den ganzen Tag.
16.12.16.00 – Es wird dunkel und wir sind alle schlecht gelaunt. Mann weg, Situation unklar, viele Kilometer die ganze Zeit in unwegsamen Gelände gelaufen, Hunger, tags immer noch minus 12° C und Müdigkeit. Am schlimmsten aber: ein Spezialaufklärer mit voller Ausrüstung, UKW-Funkgerät und Doppelbewaffnung war einfach verschwunden. Verletzt oder Erfroren? Verunglückt? Abgehauen, Fahnenflucht? – Wenig wahrscheinlich, aber wo verdammt war der Kerl abgeblieben?
16:00 Uhr meldet bei einbrechender Dunkelheit “Argument 700” an den Operativen Diensthabenden Offizier des Militärbezirkes III ein besonderes Vorkommnis. Der nimmt die Meldung zwischen einigen noch nicht aus dem Urlaub zurückgekehrten Armeeangehörigen und den Nachrichten aus dem Radio entgegen. Die UNO-Vollversammlung hat einen neuen Generalsekretär gewählt.
Was allerdings einsetzt, als dem Diensthabenden Oberst C., bewusst wird, dass es sich nicht um einen weiteren fehlenden Urlauber handelt, ist heute, im Jahr 2001 nur noch Alt-Kameraden der ehemaligen NVA vorstellbar:
Die Lage
Aus einer Übungssituation heraus wird seit über 24 Stunden in einer klirrend kalten Nacht des Jahres 1981 ein Soldat vermisst. Es ist völlig unklar, ob er verletzt, verunglückt, Fahnenflucht begangen oder wohin auch immer unterwegs ist. Im Tarnanzug mit scharfen Waffen, Personaldokumenten und Geld gehört zu seiner mitgeführten Ausrüstung auch eine S-Ration. Die dürfte länger reichen, als das Akku seines Funkgerätes. Der Mann gehört zu einer Einheit, die dem Chef des Stabes des Militärbezirks III direkt untersteht. Dinge, die die unklare Lage mehrfach brisant machen.
Die vermisste Person
Von dem vermutlich Verletzten ist bekannt, dass er überdurchschnittliche körperliche Kräfte, Hände wie mittlere Bratpfannen hat, psychisch hoch belastbar ist und im Erscheinen nach außen keiner Fliege etwas zu Leide tut. Im Westen soll er irgendeine Tante haben. Ein brauchbares Fahndungsfoto lässt sich nicht auftreiben.
Die Fahndung
Fernschreiben an alle nachgeordneten Dienststellen des Grenzkommandos Süd, … Küste, die Operativen Diensthabenden der Verbände und der GSSD, der Bezirksverwaltungen des MfS, die KI und ODH des BdVP, Trapo, die Offiziere Innerer Dienst, die Dienststellen der Militärstaatsanwaltschaften … männliche Person, scheinbares Alter 20 bis 25 Jahre, große kräftige Gestalt, 1,85m, bekleidet mit Tarnanzug der NVA und Sprungstiefel, unterwegs mit Schusswaffen und Munition, Aufenthaltsort vermutlich im Raum Leipzig-Bad Düben … bisherige Aufenthaltsermittlungen ohne Erfolg Eil-Fahndung zur Aufenthaltsermittlung des Soldaten A. … das Fernschreiben hatte eine Länge von zwei Metern.
Aus dem MB III kamen der CAkl, ein Offizier des Inneren Dienstes und ein weiterer “zuständiger Offizier”, um mit den Vorgesetzten und der örtlichen Kripo das weitere Vorgehen zu koordinieren. Die Suche ging in alle Richtungen: die Eltern befragt, Krankenhäuser aufgesucht, Gemeindeschwesternstationen angelaufen, Taxifahrer befragt, private Adressen wurden überprüft, Gespräche mit Kameraden geführt – alles ohne Ergebnis. Neben den direkten Suchmaßnahmen wurden über das öffentliche Telefonnetz und das interne Sondernetz alle erdenklichen Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung genutzt. Die Wählscheiben der Telefone drehten wie Ventilatoren. Am schlimmsten war die totale Ungewissheit. Wir hatten nicht mal die Spur eines Verdachts, was los ist.
Das Ende
Am 3. Tag nach dem spurlosen Verschwinden, es begann gerade wieder zu dunkeln, sollten Spezial-Hunde der Volkspolizei zum Einsatz kommen. Und dann klopft es 16:15Uhr kräftig an die Tür des KC und Soldat A. tritt ein. “Genosse D., Soldat A. meldet sich vom Einsatz zurück. Bewaffnung, Munition und Ausrüstung vollzählig!” Fassungslos sieht der KC einen kältegezeichneten Hünen, zerschlissenes Schneehemd, Strümpfe über die Hände gezogen, Kopfbedeckung schief und MPi fest angezogen. “Wo im Himmel waren Sie die ganze Zeit?!” – “Mein Auftrag lautete: ab Dienstag, 00:00Uhr habe ich mich so, wie im gegnerischen Hinterland zu verhalten. Meine Gruppe konnte ich nicht erreichen und so beschloss ich nach einer Nacht, mich zur Heimatkaserne durchzuschlagen.” – “Mann! Wir haben Sie überall gesucht. Haben Sie unsere Leute nicht gesehen, wie wir die Wälder durchkämmt haben?” – “Ich hab’ mich jedes Mal im Schnee versteckt und bin Ortschaften weiträumig umgangen.” – “Und wie sind Sie durch den KDP gekommen?” – “Eingesickert.” Steht der Kerl vor dem KC, übernächtigt, halb erfroren, S-Ration alle aber seine Augen funkeln erwartungsvoll.
Der Genosse D. fasst seinen Entschluss. Er lässt antreten, wertet die Komplexausbildung aus, schickt Soldat A. mit drei Tagen Sonderurlaub nach Hause und meldet danach den Vorgesetzten die Lage. Das Abblasen der eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen dauerte übrigens noch über sieben Stunden.
Namenskürzel geändert, aber dem Autor bekannt